(3.) Obwohl die Art und Weise jenes Vorganges [Pfingsten], Geliebteste, überaus wunderbar war, und es keinem Zweifel unterliegt, dass sich in jener plötzlich zutage tretenden Fähigkeit, die Sprachen aller Völker zu sprechen, die majestätische Macht des Heiligen Geistes offenbarte, so möge doch niemand glauben, dass sich in dem, was man mit leiblichen Augen sah, sein göttliches Wesen gezeigt habe! Seine unsichtbare Natur, die er mit dem Vater und dem Sohne teilt, hat damit nur eine besonderen Wirkung ihrer Gnade, so wie es ihr beliebte, durch ein sinnlich wahrnehmbares Zeichen Ausdruck verliehen, während sie das ihr eigene Wesen unter ihrer Gottheit verborgen hielt. Weder den Vater noch den Sohn noch den Heiligen Geist vermag der Mensch zu schauen; denn in der göttlichen Dreieinigkeit ist nichts unähnlich, nichts ungleich. Alle Vorstellungen, die man sich von ihrem Wesen machen kann, laufen auf dieselbe Kraft, Majestät und Ewigkeit hinaus. Wenn auch als Person betrachtet der Vater ein anderer ist als der Sohn und der Heilige Geist, so ist doch ihre Gottheit, ihre Natur die gleiche. Wenn auch der eingeborene Sohn vom Vater stammt, und der Heilige Geist der Geist des Vaters und des Sohnes ist, so ist er dies doch nicht im Sinn all der Geschöpfe, die der Vater und der Sohn geschaffen haben, sondern im Sinne eines zusammen mit beiden lebenden und regierenden Wesens. Seit Ewigkeit ist seine Natur die nämliche wie die des Vaters und des Sohnes. Darum sprach auch der Herr, als er am Tage vor seinem Leiden seinen Jüngern die Ankunft des Heiligen Geistes verhieß: "Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht fassen. Wenn aber jener Geist der Wahrheit kommt, so wird er euch die ganze Wahrheit lehren; denn er wird nicht von sich selber reden, sondern alles, was er hört, wird er reden und das Zukünftige wird er euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein. Darum habe ich euch gesagt, dass er von dem Meinigen nehmen und euch verkünden wird (Joh 16,12 ff)." Dem Vater also ist nichts anderes eigen als dem Sohne und dem Heiligen Geiste. Alles, was der eine besitzt, besitzen auch die anderen. Von jeher bestand bei der Dreieinigkeit diese Gemeinschaft; denn bei ihr deckt sich dieses gemeinsame, "alles umfassende Haben" mit ihrem "ewigen Sein". Nicht darf man bei ihr an Alter, Rang oder sonstige Unterschiede denken. Wenn schon niemand erklären kann, was Gott ist, so soll auch niemand zu behaupten wagen, was er nicht ist; denn entschuldbarer wäre es, sich über das unerklärliche Wesen der Dreieinigkeit in ungebührender Weise zu äußern, als ihr Eigenschaften anzudichten, die mit ihr im Widerspruche stehen! Wenn also fromme Herzen von der ewigen und unveränderlichen Herrlichkeit des Vaters zu fassen vermögen, das sollen sie ohne allen Unterschied zugleich auch vom Sohne und vom Heiligen Geiste glauben! Gerade deshalb bezeichnen wir ja die heilige Dreifaltigkeit als "einen" Gott, weil es in ihren drei Personen keine Verschiedenheit des Wesens, der Macht, des Wollens oder des Wirkens gibt.
Papst Leo I., der Große (440-461) - Sermo 75: Erste Predigt über das Pfingstfest. - BKV, II, 214-217; - PL 54,401-405.
(Summa Pontificia, Lehren und Weisungen der Päpste durch zwei Jahrtausende, Band I. Eine Dokumentation ausgewählt und herausgegeben von P. Amand Reuter O.M.I., 1978, Verlag Josef Kral, Abensberg, Seite 66)
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