Montag, Mai 14, 2007

Hirtenbrief des Bischofs von Regensburg Johann Michael von Sailer

an seinen Diözesan-Klerus über die gegenwärtige Zeit und das Wirken des Priesters in ihr

Clama, ne cesses, quasi tuba exalta vocem tuam, et annuntia populo meo scelera eorum, et domui Jacob peccata eorum. Rufe getrost, schone nicht, erhebe deine Stimme wie eine Posaune, und verkündige meinem Volk ihr Übertreten, und dem Hause Jakob ihre Sünde. (Isai 58,1)

Wir Johann Michael, durch göttliche Erbarmung und des heil. apostolischen Stuhls Gnade Bischof von Regensburg: Entbieten dem gesamten Klerus
Unseres Bistums Unseren Gruß und Segen im Herrn! *

Wenn in unseren Tagen der Zeitgeist auf allen Seiten Lehrkanzeln aufschlägt, Boten ausschickt und öffentliche Sendbriefe in Umlauf setzt, um seine Lehren zu verbreiten, seine Pläne zu fördern, und für selbe Anhänger und Werkzeuge zu werben; so dürfen wohl diejenigen, die in einer höheren göttlichen Ordnung der Dinge von dem heiligen Geiste als Wächter aufgestellt und mit dem «Dienste des Wortes» beauftragt sind, nicht stumm bleiben, ohne den Vorwurf des Propheten auf sich zu laden: «Die Wächter allesamt sind blind, und wissen es nicht; stumme Hunde sind sie, die nicht bellen können; sie sehen eitle Dinge, schlafen, und haben die Träume lieb»; — und noch dringender wird für sie die Pflicht zu reden, wenn jene Bestrebungen größtenteils gegen die heilige Sache selbst, deren Verteidigung ihnen obliegt, gerichtet sind.
Diese Betrachtung hat uns bewogen, an Euch, geliebte Mitbrüder, aus offenem, bewegtem Herzen ein freimütiges Wort zu richten über das, was unseres Amtes ist in Hinsicht auf die Erscheinungen der Zeit: ein ernstes Wort der Ermahnung, ein begeistertes Wort der Ermunterung zum treuen Ausharren in unserem täglich schwerer werdenden Berufe.
Zwar ist es die Bestimmung der Kirche Christi auf Erden, daß sie kämpfe mit dem Bösen, und sie hat gekämpft vom Anbeginn an, und wird kämpfen bis ans Ende der Zeiten. Aber darin stimmen doch alle besonnenen Beobachter überein, daß der Kampf in unseren Tagen eine drohendere Gestalt angenommen, daß die feindlichen Angriffe heftiger, allgemeiner geworden, als je zuvor seit dem Sturze des alten Heidentums. Denn der Unglaube, der in früheren Zeiten, einem Geächteten gleich, sich scheu verbarg, hat nun gleichsam Bürgerrecht und Ehrenrang in der Gesellschaft erhalten, und ist, unter dem Namen Zeitgeist, eine öffentliche Macht geworden. Er ist die Ausgeburt jener falschen Aufklärung, jener, im biblischen Sinne treffend bezeichneten Weltweisheit, welche, nachdem sie alle überlieferten Lehren, die bis dahin das Kleinod der Menschheit ausmachten, ohne Unterschied von sich geworfen und so die Quelle der lebendigen Wahrheit verlassen hatte, keine andere Wahrheit mehr gelten ließ, als die sie in den zerbrochenen Zisternen der sich selbst gelassenen Vernunft zu finden wähnte. So istes denn der erste und fruchtbar fortzeugende Grundirrtum dieser Weltweisheit, daß sie, den Abfall der Menschheit von Gott und die dadurch gewordene Zerrüttung aller Dinge verkennend und ableugnend, den gegenwärtigen natürlichen (in Wahrheit aber unnatürlichen, weil gottlosen) Zustand des Menschen für den normalen hält, die unbändige Selbstsucht als das höchste Rechtsprinzip, und die Befriedigung aller Triebe des verdorbenen menschlichen Herzens als unveräußerliches Menschenrecht aufstellt, und das unaustilgbare

Geleitwort von Bischof Dr. Rudolf Graber
Bischof Johann Michael Sailer bedarf weder einer Empfehlung
noch eines Geleitwortes. Sein Beiname «Der Kirchenlehrer des 19. Jahrhunderts»
oder «Der große bayerische Kirchenvater der Jahrhundertwende» sagen eigentlich
alles. Wenn wir 1982 seinen 150. Todestag feierten, so ist die Rückkehr zu ihm
keine reaktionäre Flucht in die Vergangenheit, sondern eine Mahnung zur
Bewältigung der Gegenwart und Sicherung der Zukunft.

Was uns heute Sailer so nahebringt, ist der Gleichklang der
Zeitverhältnisse und ihrer Probleme. Es waren damals wie heute unruhige, ja
revolutionäre Zeiten. Es ging damals wie heute um das Wesen des Christlichen.
Die rationalistische Aufklärung von damals bedroht auch heute wieder den Bestand dieses Christlichen. Nicht umsonst spricht man heute von einer zweiten
Aufklärung. Da nun Sailer allgemein als der Überwinder der ersten Aufklärung
gilt, so könnte er uns wohl auch heute Helfer sein. Es war ja seine Größe, die
«geistige Lage zu erfassen und in jedem Augenblick die Wahrheit auf die
Gegenwart anzuwenden». Er besaß tatsächlich eine «prophetische» Witterungsgabe, mit der er das große Ziel der «Verinnerlichung, Vertiefung und pneumatischen Entflammung» verfolgte. Wer hier den geheimen Quellgrund entdecken will, der lese die Vorrede zu seinem «Vollständigen Gebetbuch für Katholische Christen» (erhältlich beim Immaculata-Verlag, CH-9050 Appenzell), wo er immer wieder auf das Herz zu sprechen kommt. Ohne es ausdrücklich zu nennen, erblickt er im Herzen den Gegenpol zum bloßen Intellekt, zur reinen Vernunft. So kann er schreiben: «Das Gebet aus dem Herzen, die Bewegung des Herzens, das Hinwallen der Seele zu Gott ist die Hauptsache des Gebetes . . . Wo also die innere Andacht, die Empfindung des Herzens fehlt, da ist gar kein Gebet . . . Darauf kommt es beim Beten an, daß du im Glauben und Vertrauen, mit Demut und Liebe vor dem Vater im Himmel dein Herz reden läßt». Sailer hat mit diesen Worten nicht nur das Wesen des Betens erfaßt, sondern auch den Weg gezeigt zur Überwindung der Krisen von damals. Sollte es nicht ein Fingerzeig für uns Heutige sein? Er spricht in der Vorrede zu späteren Ausgaben seines Buches von der 'lebendigen Quelle, die nie versiegt'. Zu dieser lebendigen Quelle zu gehen und daraus zu schöpfen, ist der Grund, warum wir uns in Sailers Schriften versenken. Man hat Sailer den «Heiligen» jener Zeitenwende genannt. Heiligkeit ist undenkbar ohne Gebet. Möge dieser große Beter auch unsere Zeit zu Gott hin wenden.
+ Rudolf, Bischof von Regensburg



Gefühl des Unwohlseins, welches der kranken menschlichen Natur innewohnt, zu beschwichtigen, und die mangelnde Glückseligkeit zu erreichen strebt durch gewaltsame Hinwegräumung aller vermeintlichen äußeren Hindernisse, d. h. jener heilsamen Schranken, welche unter der Leitung der göttlichen Vorsehung in Staat und Kirche zur Rettung der Menschheit angeordnet sind; während doch die Geschichte bis auf unsere Tage herab beweist, daß ein Volk ohne Gesetz und Religion, also ein Volk mit derjenigen Freiheit, welche das eigentliche Ziel so vieler Wortführer des Zeitgeistes ist, ineine Herde wilder, sich selbst zerfleischender Raubtiere ausartet.
Indes konnte es nicht fehlen: es mußte eine Lehre, die sich den Gelüsten des Herzens so sehr empfahl, bald zahllose Anhänger gewinnen, um so mehr, da sie, von den höheren Ständen ausgehend, mit jener Macht der Autorität, die sie der Wahrheit abgesprochen hatte, den niederen Ständen sich aufdrang. Gegenwärtig ist sie nun auch in die untersten Klassen eingedrungen; wie ein Gift wühlt sie in den innersten Eingeweiden der Menschheit, zerrüttet daseinzelne häusliche Leben, und veranlaßt in dem Gesamtleben alle jene Zuckungen, welche Europa krampfhaft bewegen.
Doch, wenden wir, nach diesem Blicke auf den Ursprung und die Ausdehnung des Weltübels, unser Auge auf unsere nähere Umgebung, und beobachten die Erscheinungen, die zunächst in unserem eigenen Wirkungskreise sich kund geben!
Zwar ist in unserem teuren Vaterlande das reiche Erbteil von Pietät, religiösem Sinne und treuer Anhänglichkeit an Altar und Thron, welches unsere Väter uns hinterließen, noch nicht ganz zu Verlust gegangen. Aber verhehlen dürfen wir uns doch nicht, daß es, ach! schon sehr geschmälert worden ist durch die Einwirkungen desjenigen Geistes, den Wir soeben geschildert, und daß die Apostel desselben unter dem gleißenden Scheine der Lichtverbreitung auch unser treuherziges Volk um einen guten Teil jener köstlichen Hinterlage betrogen haben.
Ein großer Teil derer, welche zu den Gebildeten gehören oder gehören wollen, sind, verlockt durch die Lehren, welche sie aus Büchern, im Umgange,selbst zum Teil auf den Hochschulen empfingen, dem Unglauben anheim gefallen. Eine positive, geoffenbarte Religion, eine Religion mit Geheimnissen, gegründet auf das Geheimnis aller Geheimnisse: Gott ein Mensch geworden, der Gott-Mensch am Kreuze gestorben für das Heil der verlorenen Welt; eine Religion, die vor allem Glauben, Demut, Selbstverleugnung, Gebet fordert; eine Religion, als deren Bewahrerin sich eine sichtbare Kirche, mit Lehramt, Priestertum, Sakramenten ankündigt: das ist ihrem stolzen Sinne eine Torheit, ihrem Gelüste ein Ärgernis. Wollt Ihr ihr Glaubensbekenntnis hören? «Religion! nun ja, die gehört so mit zur Bildung; aber ein Gebildeter macht sie sich selbst nach seinem Bedürfnis; Verehrung der Gottheit in der Natur und im frohen Genusse des Lebens; in einer schlaflosen Nacht ein Blick zu den Sternen hinauf, und der Wunsch, dort einmal ungetrübt glücklich zu sein: das ist die Summe der Religion eines gebildeten Mannes. — Christus: ein weiser Mann, ein Menschenfreund, der sein Volk vom Priesterjoche befreien und zur reinen Vernunft zurückführen wollte; aber ein Tor, daß er sich darum kreuzigen ließ; — Gebet: die kindische Anmaßung des Eingreifen-Wollens in das eiserne Rad des Schicksals; — Kirche, Priestertum, Sakramente: eine spätere Erfindung schlauer, hab- und herrschsüchtiger Pfaffen, begünstigt und benutzt von noch schlaueren Despoten als Kappzaum des Volkes, aber unverträglich mit dem Geiste unseres aufgeklärten Zeitalters; ein Sklavenjoch (setzen manche hinzu), das endlich auf den Schädeln der Pfaffen und Tyrannen zerschellt werden muß.»
Das ist die Sprache des Unglaubens, die auch unter uns, so oder anders, nicht mehr bloß heimlich geflüstert, sondern laut genug gesprochen wird; die in zahllosen Erzeugnissen der Presse, in Geschichtsbüchern, Romanen, Zeitschriften und Tagesblättern widerhallt, und die vorzüglichste Würze der sogenannten Geistesbildung ausmacht, die täglich dem lesegierigen Publikum geschäftig gespendet wird.
Auch den unteren Volksklassen hat sich diese Lehre, durch Wort und Beispiel gepredigt, bereits mitgeteilt, und wenn auch nicht so sehr auf die Köpfe, so hat sie in praktischer Anwendung um so mehr auf die Gesinnung, auf die Sitten des Volkes gewirkt; und hier, wo alles sogleich unmittelbar derb und kräftig ins Leben tritt, zeigt sich ihre zerstörende Wirkung am handgreiflichsten.
In ihrem Gefolge nämlich breitet sich das Sittenverderbnis verheerend über Stadt und Land aus; denn wo der Glaube wankend, das Gewissen stumpf geworden, die Gottesfurcht ausgerottet ist, da wuchern, wie das Unkraut auf einem wüsten Acker, alle die bösen Triebe, die in dem angeborenen Verderben der menschlichen Natur ihre Wurzel haben. Auf dem umgestürzten Altare des dreieinigen Gottes thronet dann in den Herzen die Dreieinigkeit des Weltgeistes: die Augenlust, die Fleischlust, die Lebenshoffart. Alles Dichten und Trachten ist auf den Kultus dieser Götzen gerichtet. Dem Erwerb des ungerechten Mammons wird Gewissenhaftigkeit, Redlichkeit geopfert; fremdes Eigentum ist nicht mehr heilig; Betrug ist Gewerbskunst geworden; die Prozeßsucht verschlingt Haus und Hof, und saugt Feindseligkeit, Rach- und Mordsucht. Voll Hoffart drängen sich die niederen Stände gewaltsam zu den höheren, zu ihren Genüssen, ihren Torheiten hinan; ein Streben, das sich in der Modesucht auf eine sprechende Weise veräußerlicht. Die schöne alte volkstümliche Einfalt und Sitte, mit der so viel Edles zusammenhängt, wird, wie der alte Hausrat, gegen neufränkischen Schein und Flitter vertauscht. Eine wahre Genußwut ist epidemisch geworden, und kaum vermögen die täglich sich mehrenden öffentlichen Lustorte die heranströmende Menge zu fassen, kaum die unaufhörlichen Tanzbelustigungen sie zu ermüden. Vorzüglich aber ist es die unbändige Fleischeslust, der die meisten Opfer verfallen. Schamhaftigkeit, Jungfräulichkeit ist unter der Jugend beinahe zum Märchen geworden. Dinge, die unter Christen nicht genannt werden sollten, sind der beliebteste Stoff der Unterhaltung in Rede und Gesang, selbst schon im Munde der Kinder. Das männliche Geschlecht rühmt sich offen seiner Verführungskünste; das weibliche kommt ihm mit lockender Willfährigkeit entgegen. Mehr als ein Viertel der Geborenen ist die Frucht sündhafter Lust, kennt nicht seinen Vater, kennt kaum seine Mutter, und diese nur als eine Ehrlose. Ohne Pflege, ohne Erziehung, außer allem zügelnden Familienverbande aufwachsend, finden sich dieseunglücklichen Wesen in die Welt hinausgeworfen, ohne alles andere Erbteil, als das verwildernde Bewußtsein einer ehrlosen Geburt; in den meisten Fällen frühem Verderben preisgegeben, und wieder Verderben in reichem Maße um sich verbreitend.
Aber auch das eheliche Leben bietet nur zu häufig einen nicht minder traurigen Anblick. Das Bündnis, gewöhnlich in blinder Leidenschaft oder aus habsüchtiger Berechnung geschlossen, sehr oft nur ein Deckmantel früherer sündhafter Vertraulichkeit, entbehrt aller Bedingungen einer sittlichen, dauerhaften Vereinigung; wie kann Segen Gottes, wie Gnade des Sakramentes auf solchem Sündenpfuhle ruhen? Nach wenigen Wochen tritt Enttäuschung, Abneigung ein, Zwiste entspinnen sich, es mangelt die gegenseitige Achtung, sie zu beschwichtigen; man wird sich satt, sucht Anlässe zur Trennung, führt sie herbei, und Ehebruch oder Mißhandlung müssen am Ende dazu dienen, das wieder zu scheiden, was Gott nicht vereinigt hatte. Da wird denn auch der eheliche Segen in den erzeugten Kindern zum Fluche; denn wie könnte die Kinderzucht in einem solchen zerrütteten Familienleben gedeihen? Vom ersten Erwachen des Bewußtseins an Zeugen und vielfältig Opfer der elterlichen Zwietracht, täglich das Bild aller entfesselten Leidenschaften vor Augen, werden sie durch Ungehorsam und kränkende Rohheit die natürlichen Rächer der elterlichen Schuld, um nach wild durchlebter Jugend im reiferen Alter von ihren eigenen Kindern gleiche Vergeltung zu empfangen. So vererbt sich das Verderben in steigender Progression von Geschlecht zu Geschlecht, und nur zu sehr paßt auf unseren Zustand, was der römische Dichter, den Untergang seines Volkes ahnend, aussprach: Aetas parentum, pejor avis, tulit nos nequiores, mox daturos progeniem vitiosiorem (Horat. Od. 6 L. 3).
Was noch die Herrschaft des Unglaubens ganz besonders beurkundet, ist das Überhandnehmen des Selbstmordes. Wenn der Unglückliche seinen Götzen alles geopfert hat, und sie ihn nun treulos verlassen, und er sich schrecklich getäuscht sieht in seinen Glücksträumen; oder wenn seine geheimen Vergehen ans Tageslicht kommen, und ihm nun Schande und Strafe droht: dann, statt sich in die Arme der unendlichen Erbarmung zu werfen, stürzt er mit eigener Henkershand sich verzweifelnd in den Abgrund, glücklich, wenn er statt des Gerichtes, an das er nicht glaubt, die Vernichtung fände, – auf die er trostlos hofft!
Und wenn nun noch unaufhörlich die Losung «Freiheit!» in diese gährende, durch keine inneren sittlichen Bande mehr gehaltene Masse hineingerufen wird, wäre es ein Wunder, wenn sie den schwachen Nachruf: «Freiheit und Ordnung» einmal zu überhören anfinge? –
Doch, wozu Euch noch ausführlicher schildern, was Ihr selbst in Euren Berichten täglich jammernd uns klagt? 0 möchtet Ihr dafür mit Wahrheit uns sagen können, daß wir die Farben dieses traurigen Bildes zu düster aufgetragen hätten!
Inmitten nun dieser Stürme des Unglaubens, inmitten dieser schwellenden Wogen des Sittenverderbnisses steht die christliche Kirche, stehen wir, ihre Diener, ein Gegenstand des Hasses, des Spottes, der Verachtung! – Sollen wir verzagen in dieser Stellung? Das sei fern! denn Er, unser Herr, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden, Er hat gesagt: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt»; Er hat gesagt: «Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es hat dem Vater gefallen, dir das Reich zu geben»; Er hat gesagt: «Die Pforten der Hölle werden meine Kirche nicht überwältigen.»
Oder sollen wir etwa, im Vertrauen auf diese allmächtige Verheißung, die Hände müßig in den Schoß legen? Das sei wiederum fern! denn er hat auch gesagt: «Ich habe euch erwählt und gesetzt, daß ihr hingeht und viele Frucht bringt»; Er hat Fluch und Wehe ausgesprochen über den faulen und nichtswürdigen Knecht, der das ihm anvertraute Pfand vergräbt, anstatt damit zu wuchern. Er hat uns das Salz der Erde genannt, das hinausgeworfen und zertreten werden soll, wenn es seine Schärfe verliert und unwirksam wird.
Und hier, geliebte Brüder! dürfen wir das niederschlagende Geständnis nicht umgehen, daß die Fäulnis, die Verdorbenheit des Geschlechtes, wenn auch nicht geradezu herbeigeführt, doch gewiß sehr befördert worden ist dadurch, daß in so manchen Dienern der Kirche das Salz schal geworden war, und, statt die Masse vor Fäulnis zu bewahren, sich selber von der Fäulnis anstecken ließ.
Es ist demnach für uns die Grundbedingung eines erfolgreichen Wirkens, eines glücklichen Kampfes gegen das eben beschriebene Verderben der Zeit, daß wir selbst davon rein und unberührt seien, daß der Weltgeist keinen Teil an uns habe. Denn wie wollten wir außer uns bekämpfen, was innwendig in uns selber herrscht? Wie das besiegen, was uns selbst in seinen Banden gefangen hält? Deshalb sagt der Herr:
«Niemand kann zweien Herren dienen, denn er wird entweder den einen hassen und den andern lieben; oder dem einen anhängen, und den andern verachten»; und ferner: «Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.» Der ist fürwahr ein schlechter, ehrloser Krieger, der mit dem Feinde im Einverständnis lebt. Unser erhabener Beruf fordert also vor allem Trennung von der Welt. Denn nur insofern können wir auf sie wirken, als wir außer ihr, über ihr stehen. «Da mihi punctum extra terram, et movebo terram», sagte ein alter Weiser. Uns ist dieser Stützpunkt gegeben, in dem, der da sagte: «Wenn ich werde erhöht sein von der Erde, dann werde ich alles an mich ziehen.» Also an Ihn, an den Gekreuzigten, an den zur Rechten des Vaters Erhobenen lasset mit ganzer Seele uns anschließen. «Bleibt in Mir, spricht Er auch zu uns, so bleibe Ich in euch. Wie eine Rebe keine Frucht von sich selbst bringen kann, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in Mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in Mir bleibt, der bringt viele Frucht, denn ohne Mich könnt ihr nichts tun. Wäret ihr von der Welt, so würde euch die Welt als das Ihrige lieben; aber weil ihr nicht von der Welt seid, und Ich euch von der Welt auserwählt habe, darum haßt euch die Welt.»
Ja die Welt haßt uns; auch im schlechten Priester, der sich ihr gleichstellt, ihren Verlockungen sich hingibt, ihren Genüssen, ihren Plänen sich zugesellt, haßt sie den Priester; sein Name, sein Stand erinnert stets an etwas, das ihr ein Ärgernis ist, weil es Galle in Freude gießt. Lasse also keiner sich täuschen durch ihre Schmeicheleien, ihre Lokkungen; wenn sie ihn seiner Würde beraubt und zu ihren Zwecken mißbraucht hat, so spottet sie des «törichten Pfaffen», der, seines hohen Berufes vergessend, wie ein verirrter, erloschener Stern in ihren niederen Kreisen sich dreht.
In dieser Zurückgezogenheit von der Welt und ihren Zerstreuungen, die so wenig aus stolzem Selbstgefühl, als aus mürrischer, kopfhängerischer Menschenscheu, am allerwenigsten aus pharisäischer Scheinheiligkeit, sondern aus dem klaren, demütigen Bewußtsein einer höheren, mit dem Tande des Alltagslebens unverträglichen Sendung hervorgehen soll, finden wir dann auch Muße, uns durch ernstes, mit Gebet und Betrachtung verbundenes Studium immer fester zu begründen in der Wissenschaft des Heiles, deren Mittelpunkt Christus, deren Bewahrerin die Kirche ist, und deren Umkreis nichts wahrhaft Wissenswürdiges ausschließt. Es ist fürwahr wichtiger, als gar viele glauben, und besonders wichtig in unseren Tagen, daß der Priester nicht nur durch Frömmigkeit, sondern auch durch gediegenes Wissen sich auszeichne. Denn wenn, wie wir gesehen haben, ein falsches, oberflächliches Wissen, das in ein wahres Nichtwissen göttlicher und menschlicher Dinge umschlägt, als die Hauptquelle des Übels unserer Zeit zu betrachten ist, so müssen die Verteidiger der heiligen Sache um so tiefer in den Abgrund der Wissenschaft eindringen, um jene vergiftende Quelle abzugraben und das lebendige Springwasser zu erreichen, das, unter mühsam zu durchbrechenden Sand- und Felsschichten hervorquellend, die trüben Pfützen falscher Aufklärung zu reinigen vermag. Vorbilder und Handleiter seien uns hierin jene großen Kirchenlehrer, welche die Irrtümer ihrer Zeit mit den siegreichen Waffen wahrer Wissenschaft bekämpfen.
In dieser Zurückgezogenheit von der Welt und in der innigen Vereinigung mit Christus, die wir täglich am Altare erneuern, werden wir aber vor allem und allein empfänglich der Mitteilung seines heiligen Geistes, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie Ihn nicht sieht und nicht kennt, der als ein eifersüchtig-liebender Geist, ein der Weltliebe zugewendetes Herz verschmäht, und ohne dessen belebenden Hauch all unser Wissen tot, all unser Bemühen fruchtlos, all unser Kämpfen eitles Luftgefecht bleibt.
Um diesen Geist, der allein das entfaltete Angesicht der Erde wieder zu erneuern vermag, wie Er es schon einmaldurch die Predigt der Apostel erneuert hat, um diesen heiligen Geist laßt uns den Vater durch den Sohn unaufhörlich und inbrünstig bitten, und Er wird ihn uns verleihen nach seiner teuren Verheißung.
Erfüllt, beseelt von diesem Geiste, werden wir dann mit der durchdringenden Macht des Wortes Gottes die Welt überweisen können von der Sünde, in der sie durch Unglauben gefangen liegt, von der Gerechtigkeit, womit der zum Vater Aufgestiegene ihr dereinst vergelten wird, von dem Gerichte, das über ihren Fürsten bereits gehalten ist.
Von dem heiligen Geist, und der durch Ihn in unser Herz ausgegossenen Liebe werden wir dann jenen heiligen Eifer empfangen, der uns drängt und treibt, mit gänzlicher Hingebung uns dem Heil der uns anvertrauten Seelen zu widmen, allen alles zu werden, um alle für Christus zu gewinnen.
Diese Hirtenliebe und Hirtentreue wird uns dann von selbst die beste Art und Weise lehren, unsere Wirksamkeit den Bedürfnissen der Zeit und der einzelnen Glieder der Gemeinde anzupassen. Nach dem Beispiel des Erzhirten werden wir nicht ermüden, den Verirrten mit langmütiger Geduld nachzugehen, um den rechten Augenblick zu ihrer Zurückführung zu erwarten und zu benutzen, ihnen nachrufend das freundliche Wort: «Lasset euch versöhnen mit Gott durch Christus!»
Wir werden aber auch den hartnäckigen Ungläubigen und Sündern das Donnerwort ins schlummernde Gewissen rufen: «Wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet»; «Kein Hurer, kein Unzüchtiger, kein Geiziger hat Anteil an dem Reiche Christi und Gottes» usw.
Wir werden ferner unsere vorzügliche Sorgfalt den noch unverdorbenen Gliedern der Gemeinde zuwenden, um sie vor dem Verderben der Welt zu bewahren; wir werden mit aller Macht der Liebe und des Ansehens sie von jenen Gelegenheiten zurückzuhalten suchen, wo der Glaube und die Tugend der meisten Schiffbruch leidet; werden unserer Wachsamkeit die der Hausväter und Hausmütter zugesellen, indem wir sie an die schwere Verantwortlichkeit mahnen, welche hinsichtlich des Seelenheiles ihrer Hausgenossen auf ihnen lastet. Und da uns das wachsame Hüten und Bewahren jedes einzelnen durch nichts so sehr als durch die heilige Beichtanstalt erleichtert wird, sowerden wir diesem wichtigen Geschäfte mit aller Liebe und Geduld uns unterziehen, und uns hüten, durch sorglose, oberflächliche und laxe Handhabung dieses Heilmittels die Frucht desselben zu vereiteln, oder gar diejenigen unserer Mitbrüder zu verdächtigen, die aus einem größeren Maß von Liebe einen größeren Eifer hierin beweisen. Im Gefühle aber unserer Ohnmacht und der Unzulänglichkeit unserer Sorge, werden wir die Seelen recht oft zum Erzhirten selbst verweisen, d. h. wir werden sie zum öfteren würdigen Gebrauch der hl. Sakramente ermuntern, damit sie, von dem Fleische und Blut Jesu genährt und gestärkt, in Ihm bleiben und Er in ihnen.
Was aber unsere höchste Sorgfalt in Anspruch nimmt, das ist die Schar der Kleinen, auf deren zarten Häuptern der Segen oder Fluch künftiger Geschlechter ruht, je nachdem sie zum Guten oder Bösen angeleitet werden. Hier möchten Wir Euch, geliebte Brüder! das liebliche Wort des Herrn: «Lasset die Kleinen zu Mir kommen, und wehret ihnen nicht ...» mit all dem Nachdruck, den es in Seinem göttlichen Munde gehabt haben muß, ins Herz rufen können: aber auch mit demselben Nachdruck das furchtbar ernste Wort: «Wer eines von diesen Kleinen ärgert, dem wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein am Halse in die Tiefe des Meeres versenkt würde.» Ihre Engel sehen das Angesicht des Vaters im Himmel; werdet also Ihr die Schutzengel auf Erden, so wird das Angesicht des himmlischen Vaters wohlgefällig auf Euch ruhen. Nehmt Euch demnach mit allem Fleiß des christlichen Unterrichts in den Schulen an; pflanzet hier in die zarten Herzen die Keime der Gottesfurcht, der Liebe und Ehrfurcht gegen die Eltern, der Demut, Bescheidenheit, Mäßigkeit, Sittsamkeit, Arbeitsliebe; pflegt vor allem die heilige Pflanze der kindlichen Unschuld, und bewahrt sie wie euren Augapfel. Lehrt die Kleinen, ihre zarten Herzen und Hände in kindlichem Flehen zum Vater im Himmel zu erheben; das Gebet von ihren reinen unentweihten Lippen dringt durch die Wolken, und vermag die drohenden Strafgerichte Gottes abzuwenden. Prägt die Lehren unserer heiligen Religion tief in ihr Gedächtnis, aber auch tief in ihr Gemüt. Aller gute Same, den Ihr auf diesem Acker ausstreut, der trägt wahrhaftig hundertfältige Frucht; und diese Frucht wird Euch überleben, und für das, was Ihr an den Kindern getan, werden dereinst an Eurem Grabe Euch noch dankbare Segenswünsche gestammelt werden.
Zwei besondere Ermahnungen, welche sich zunächst auf die gegenwärtigen Zeitumstände beziehen, haben Wir Uns bis hier am Schluß vorbehalten.
1. Legt den Eurer Obhut Anvertrauten bei jeder Gelegenheit die im Wesen des Christentums tief gegründete Pflicht der Treue, des Gehorsams, der Unterwürfigkeit gegen die von Gott gesetzte Obrigkeit ans Herz. Schärft ihnen die klaren, unausweichlichen Aussprüche Christi und seiner Apostel hierüber nachdrücklich ein. Sagt denen, die von der Influenza des Freiheitsschwindels angesteckt sind, daß das Christentum allein die wahre Freiheit verleihe, indem es uns frei macht von jenen Tyrannen (den bösen Begierden und Leidenschaften), die ein jeder in seinem eigenen Busen trägt; belehrt sie, daß der Christ, der diese Freiheit durch den Sohn erworben hat, sich willig allen äußern, sein Gewissen nicht verletzenden Anordnungen und Gesetzen unterwirft, den Blick auf jenes freie Mutterland, das Jerusalem, das droben ist, gerichtet. Zeigt ihnen das Beispiel der ersten Christen, welche lieber die Opfer der blutigsten Gesetze werden, als sich gegen die Obrigkeit, die sie erlassen. empören wollten, und zwar nicht aus feigem Sklavensinn, sondern in der Macht und dem Mut jenes Glaubens an eine bessere Welt, der diese Welt verachtet und überwindet. Legt es ihnen nahe, daß es fürwahr besser sei, unserem angestammten, von Gott gesetzten christlichen König und seiner Regierung zu gehorchen, als der Willkür jener gewissenlosen, von Ehrgeiz und Habsucht getriebenen Volksaufwiegler, und der Wut eines von ihnen aufgehetzten Pöbels preisgegeben zu werden.
2. Die zweite Ermahnung betrifft Euch selbst. Lasset Euch nicht verleiten, teilzunehmen an jenen politischen oder kirchlichen Oppositionsvereinen, welche heimlich oder öffentlich, mittelbar oder unmittelbar eine Umwälzung der bestehenden gesetzlichen Ordnung in Staat und Kirche bezwecken, zu deren Aufrechthaltung Ihr durch Eid und Pflicht verbunden seid. Wir untersagen Euch, kraft Unseres Oberhirtenamtes, jede solche Teilnahme, und würden denPflichtvergessenen, der sie sich zuschulden kommen ließe, die ganze Strenge der kirchlichen Strafgesetze fühlen lassen. Doch Wir vertrauen, daß unter Euch allen nicht einer sei, der Uns solchen Kummer bereiten werde.
Und nun, geliebte Brüder! Zum Schluß die Bitte: Lasset diesen freundlichen Zuruf, diese väterlichen Ermahnungen Eures Bischofs in Eurem Herzen Anklang, und in Eurem Leben Nachklang finden. Es sind Worte eines Greisen, der, nach achtzigjähriger Pilgerschaft, an den Pforten der Ewigkeit stehend, Euch nichts Besseres zu sagen weiß, als: «Habt nicht die Welt lieb, noch 'was in der Welt ist: denn die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt ewig'. Er richtet diese Worte an Euch am Sonntag der Palmen. Die schwere Leidenswoche steht noch bevor, auch eine schwere Arbeitswoche für Euch alle; aber bald wird sie überstanden sein, und schon in acht Tagen ertönt das freudige Alleluja zu Ehren des Erstandenen. So ist es, Brüder! mit unserem Leben. Noch wenige Wochen, Monate, Jahre der Arbeit, und dann sind alle Mühen, alle Leiden vorüber für immer. Also mutig gekämpft und geduldig ausgeharrt bis ans Ende, denn es kommt der Tag der Vergeltung, wo Er, für den wir gestritten und geduldet, den Schweiß und die Tränen von unseren Augen wischen, und uns mit ewiger Freude alles Leiden lohnen wird. Der dieses bezeugt, spricht: 'Ja ich komme bald! Amen! Komm Herr Jesu!' – Bis dahin flehen wir mit der heiligen Kirche: 'Gott! von dem allein stammt alles heilige Verlangen, alles rechte Beginnen, alles gerechte Tun: gib uns Deinen Dienern jenen Frieden, den die Welt nicht geben kann; damit unsere Herzen, Deinen Geboten ergeben, und unsere Zeiten, von allen feindlichen Schrecken befreit, unter Deinem Schutze ruhig bleiben. Durch Jesus Christus, Deinen Sohn, unseren Herrn.'»
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi sei mit Euch allen! Amen.
Gegeben Regensburg am Palmsonntag, den 15. April 1832.


+ Johann Michael, Bischof von Regensburg

* Dieser Hirtenbrief, den der ehrwürdige Bischof Sailer im 81. Jahre seines Lebens, wenige Wochen vor seinem sel. Tode erließ, muß als der Abschied eines liebenden und bekümmerten Vaters von seinen Kindern, als die letzte Ermahnung des Lehrers und als sein Schwanengesang angesehen werden. (Anm. d. Red.)

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