Es wird sehr viel diskutiert über die Existenz eines kanonischen Rechts, das heißt eines Systems von Gesetzen in der Kirche. Man geht dabei so weit, daß man jedes Bemühen der Kirche um Regelung irgendeiner Sache tadelnd und ironisch als "Juridismus", als Verrechtlichung anprangert und vom kirchlichen Leben ausschließen möchte, gleich als ob fehlerhafte Maßnahmen kirchlicher Gesetzgebung die Verwerfung und Abschaffung solcher Tätigkeit rechtfertigen würden, wobei man sich zwar noch auf bestimmte Stellen der Schrift beruft (vgl. Gal 2,16.18; Röm 4,15), diese aber ungenau auslegt. Man bedenkt nicht, daß "eine Gemeinschaft ohne Gesetz hier auf Erden nach wie vor nur eine Gemeinschaft nach Willkür wäre, ganz abgesehen davon, daß sie keine Gemeinschaft der Liebe wäre oder jemals eine solche sein könnte" (L. Bouyer, L'Eglise de Dieu, S. 596). Heute ist man zwar wohl wie noch nie dem Kirchenrecht gegenüber ziemlich reserviert, und zwar aufgrund einer fehlerhaften Auslegung des letzten Konzils, als ob dieses die rechtlichen und hierarchischen Bande in der Kirche ihrem Wesen nach gelockert hätte. Aber andererseits übersieht man die fortschreitende Tendenz, für alle Ebenen in der Kirche mit Berufung auf ein dringendes Bedürfnis die unterschiedlichsten Neuerungen, die einander bisweilen sogar widersprechen, auch rechtlich festzulegen. Ohne Zweifel steht hinter diesem Vorgehen auch die Absicht nach gesunden Reformen und wünschenswerter Anpassung. Dann stimmt die Kirche heute nicht nur zu, sondern fördert sogar solche Bestrebungen. Doch besteht auch Anlaß zu Besorgnis, da diese rechtlichen Neuerungen mit der Lehre und mit der gültigen Norm in der Lehre der Kirche unvereinbar sein können. Diese Bedenken wiegen um so schwerer, als die Tendenz, die kirchliche Praxis nach neuen, fraglichen Grundsätzen zu verändern, leicht vom rechtlichen in den moralischen Bereich hinübergreift und ihn mit gefährlichen Gärstoffen übeschwemmt und so untergräbt. Zuerst wird dann der klare Begriff des Naturrechts angegriffen, danach die Autorität des positiven Gesetztes, und zwar sowohl im kirchlichen wie im staatlichen Bereich, denn beides steht der Autonomie des Einzelnen oder der Gemeinschaft entgegen. Auf diese Weise nimmt man dem Gewissen eine klare Erkenntnis und sittliche Annahme der objektiven moralischen Verpflichtung. So wird man, wie man sagt, frei und unabhängig. Ja, aber o weh! Zurück bleibt ein blinder Mensch, ohne Kriterium für sein menschliches Handeln. Er läßt sich dann einfach im Strom treiben und ist den Zufälligkeiten der einzelnen Situationen oder der instinktiven psychosomatischen Antriebe ausgesetzt, ohne jede echte Ordnung und ohne personale Selbstbeherrschung. Und das wird noch gerechtfertigt mit dem falschen Ideal einer Befreiung und mit dem sophistischen Hinweis auf die sich immer weiter ausbreitende sogenannte permissive Moral. Was bleibt dann noch vom Gespür für das Gute und das Böse? Was bleibt von der Würde und Größe des Menschen? Wie wahr ist es doch, daß der Mensch ohne Gesetz nicht mehr Mensch ist! Und nur zu wahr ist es, daß das Gesetz ohne eine Autorität, die es lehrt, interpretitiert und auferlegt, sich leicht verdunkelt, lästig wird und dann verschwindet! Wie muß sich doch unsere christliche Freiheit von jener unterscheiden, die der Apostel Petrus angriff: "Ihr seid wohl frei, aber ihr habt die Freiheit nicht, um sie als Deckmantel für die Bosheit zu gebrauchen, sondern handelt als Diener Gottes" (1 Petr 2,16)! Auch nützt es nichts, gegen die Notwendigkeit eines Gesetzes an die Freiheit des Geistes zu appellieren oder an die "Freiheit (vom jüdischen Gesetz), zu der uns Christus befreit hat" (Gal 5,1). denn er selbst, Christus, hat uns doch gesagt: "Meinet nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen" (Mt 5,17). Diese Erfüllung nimmt alles wieder auf und überhöht es im Gebot der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten (Mt 22,37-40). Sie wird zum neuen Gebot, zum Vermächtnis Christi: "Liebet einander, wie ich euch geliebt habe" (Jo 13,34).
Papst Paul VI., 28. Januar 1972.
Aus: "Das Zeichen Mariens", 5. Jahrgang, Nr. 11, März 1972, S. 1540.
Samstag, Januar 13, 2007
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